Die Rolle der Atmung
„Woher weiß man, ob etwas lebendig ist? Man schaut nach, ob es atmet.
Markus Zusak - aus dem Buch "Die Bücherdiebin"
Atmung ist wesentlich
Mit dem ersten Atemzug gelangt ein Mensch „auf die Welt“, mit dem letzten verlässt er sie. Die Atmung begleitet uns ein Leben lang. Sie ist so ursprünglich wie existenziell. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass es in allen Zeiten und in allen Kulturen Riten, Übungen und Anweisungen gab, die sich um das Atmen drehen. Zwar läuft die Atmung normalerweise begleitend im Hintergrund ab. Sie ist anpassungsfähig und in diesem Sinne passiv. Aber sie ist eben auch aktiv steuer- und variierbar und das in einem Umfang, der für viele Menschen erstaunlich ist. Atmung ist einer der wichtigsten Indikatoren dafür, ob eine Bewegung für uns leicht oder schwer ist. Und zwar nicht nur allgemein, sondern sehr spezifisch ermöglicht uns das Lauschen auf eine Veränderung in der Atemqualität, den Moment zu finden, in dem uns etwas nicht mehr ganz so leicht fällt. Beim Konzentrieren halten manche die Luft an, z.B. wenn sie auf etwas zielen oder durch ein Mikroskop schauen.
Atmung und Emotion
Unsere Atmung spiegelt unsere Emotionen wieder: Staunend atmen wir ein, uns stockt der Atem vor Entsetzen, erleichtert atmen wir auf, prüfend schnuppern wir an Dingen, um zu erfahren, welche Emotion sie bei uns auslösen. Bei der Beziehung zwischen Atmung und Emotion handelt es sich, wie bei so vielen Prozessen im Leben, um ein wechselseitiges Verhältnis, ein gegenseitiges Beeinflussen. Daher ist es im Einzelfall nicht so klar, ob die Atmung die Emotion oder die Emotion die Atmung anstößt.
Atemübung? Atemlektion? Atemerfahrung?
Moshé Feldenkrais wandte sich zu seiner Zeit gegen Anweisungen zum „richtigen Atmen“. Dass nicht eine Art zu atmen oder eine spezifische Atemübung die einzig sinnvolle sei, ist auch heute noch Stand seriösen Wissens. Ließe man der Atmung ihren natürlichen Lauf, so müsste doch eigentlich alles von selbst geschehen. Aber in unserem Leben geschieht ja auch nicht alles von selbst. Gewohnheiten, manchmal auch recht einseitige Lebensweisen wirken sich auch auf unser Atmen aus. Sollte man Atmen also üben? Üben im Sinne mechanischen Wiederholens hat eine sehr begrenzte Reichweite. Sollte man Atmen eher neu lernen? Im Feldenkrais spricht man zwar von „Lektionen“ also auch „Atemlektionen“, aber es ist hier weniger ein Begreifen über den Verstand gemeint, als vielmehr ein Entdecken weiterer Möglichkeiten. Möglichkeiten, sich und damit auch seinen Atem anders zu organisieren. Es ist eine Erfahrung mit allen Sinnen, wie sich Atmen und Haltung, Atmung und Bewegung, Atmung und Aufmerksamkeit wechselseitig beeinflussen. Das Beste dabei ist: Die Entdeckung weiterer neuer Möglichkeiten fühlt sich erfrischend, belebend und wohltuend an! Und kann sich sogar ganz “ungewollt” als neue, hilfreiche Gewohnheit ausbilden.
Atmung im Alltag
Das Wiederentdecken von Atemmustern im Alltag ist nach solchen Lektionen einfacher. Ganz konkret wahrzunehmen, ob sich etwas besser mit einer Aus- oder Einatmung verbinden lässt, ist von praktischem Wert. Atme ich in den Brustkorb? Kann der Bauch an der Atmung teilnehmen? Ab und an auf den Atem zu hören, kann erkennen lassen, dass man gerade etwas als schwierig wahrnimmt. Sich dieser Tatsache bewusst zu werden ist immerhin die Voraussetzung einer möglichen Änderung. Und wenn sich das Ganze dann auch noch beginnt gut anzufühlen…
Kindesentwicklung
Wenn ich darauf achtgebe, wie ich mit mir umgehe, dann brauche ich nicht mehr so viel darüber nachzudenken, wie ich sein soll.
Moshé Feldenkrais
Start mit idealen Lernbedingungen
Unter guten Bedingungen wachsen kleine Kinder umhegt in einer sicheren Umwelt auf. So hat das Kind die Möglichkeit, im wahrsten Sinn des Wortes den Umgang mit sich selbst zu lernen. Denn vieles ist ihm, in ihm selbst, noch unbekannt. Es muss erkundet werden, wie das alles so geht: vom Rücken auf die Seite drehen, aufsetzen, krabbeln - und was sehen die Augen dabei? Vieles „erschließt“ sich dem Erdneuling ja erst durch das Tun. Es gibt im Kind ja noch keine Idee, wozu das alles mal führen wird. Die Orientierung ergibt sich immer nur im unmittelbaren Vollzug der Handlung und natürlich „nur“ als sensorische Empfindung.
Optimales Aufwand-Nutzen-Verhältnis
Kleine Kinder haben noch keine kräftig entwickelte Muskulatur. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihre Bewegungen mit geringstmöglichem Aufwand, also hocheffizient, auszuführen. Bei minimalem Energieaufwand werden Balance-Leistungen ausgeführt und das eigene Körpergewicht bewegt. Dabei muss das Eigengewicht durch die Knochen optimal und achsengerecht unterstützt werden.
Anpassen an veränderte Körperproportionen
Die Veränderung der Körperproportionen mit dem Heranwachsen und der Drang, äußere Ziele zu erreichen kann aber die als Kind „unbewusst“ gespeicherte Bewegungseffizienz „überschreiben“. Denn Erwachsenwerden bedeutet „den Umgang mit der Welt“ zu lernen. Da gibt es viele Vorbilder, nicht nur gute, auch mittelgute, suboptimale und schlechte. Da gibt es auch Zwänge und Anpassungsleistungen. Der Umgang mit sich selbst, also das alltägliche Bewegen, tritt so leicht in den Hintergrund. Es erscheint dem Erwachsenen ja ohnehin als selbstverständlich. Dabei verlieren wir leider unbemerkt die Bewegungseffizienz aus dem Fokus und damit auch aus dem eigenen sensorischen Blickfeld. Mögliche Signale wie Spannungen oder sogar Schmerzen führen dann (hoffentlich) zum Umdenken und zur Überlegung, ob der Umgang mit sich selbst denn noch gut ist.
Von der Kindesentwicklung abgeschaut
Um den Umgang mit sich selbst wieder zu verbessern, schaffen Feldenkrais-Lehrende bewusst ein stressfreies, gesichertes Lernumfeld. Das Bewegungslernen und seine natürliche Ausrichtung auf Effizienz ist eine gute „Blaupause“ zum Wiedererlernen gesunder Bewegung. Viele Lektionen in “Bewusstheit durch Bewegung” verwenden Bewegungsmuster, die kleinen Kindern abgeschaut sind. Natürlich müssen diese Muster modifiziert werden, denn allein schon die Proportionen eines Kleinkindes (Größenverhältnisse von Kopf zu Rumpf zu Gliedmaßen) sind nicht 1:1 auf Erwachsene übertragbar. Und weil die Orientierung auf die Welt dominiert, sucht der erwachsene Verstand sofort nach einem „Wozu ist das gut?“.
Stattdessen braucht es eine Atmosphäre des Erkunden-Könnens und Probierens. Das Erspüren, ob etwas leicht geht, wird wieder wichtig. Feldenkrais-Lehrerinnen und -Lehrer verfügen dazu über ein umfangreiches Spektrum an Lektionen, Variationen und Anleitungen, die helfen, dass es zu einem neuen Erleben des Umgangs mit sich selbst kommt.
Teamwork für mehr Effizienz
Es ist ein wenig wie in einem Unternehmen, in dem ein anderer innerbetrieblicher Umgang das Zusammenspiel der einzelnen Abteilungen verbessert. So kann die betreffende Person („das Unternehmen“) ein anderes Zusammenwirken der einzelnen Körpersegmente (“Abteilungen“) erlernen. Gemeint ist ein Lernen ohne Pauken, ohne Nachmachen, ohne Vorgabe „Du sollst Dich so und so bewegen!“
Es ist ein Lernen, das sich gut anfühlt, denn eine effiziente Bewegung empfindet man als einfach und harmonisch. So, wie manchmal kleine Kinder freudig erstaunt sind, wenn sie das erste Mal stehen und die Welt aus einer anderen Perspektive sehen. Und ein Lernen ohne Nachmachen stärkt das Selbstbild!
Erinnern Sie sich noch?
Weitere Videos finden Sie auf dem YouTube-Kanal der International Feldenkrais Federation.